Eine kleine Schneeflocke verfing sich in Luises Wimpern. Als diese blinzelte, rieselte der Eisstern tiefer auf die von der Kälte geröteten Wangen, um sich dort im Salz der Tränen aufzulösen und nur das Gefühl eines eisigen Kusses zu hinterlassen. Luise stand etwas abseits von der Clique und umklammerte ihr Sektglas mit steifen Fingern. Eilig nippte sie daran, damit es niemandem auffiel, wie schwer sie schluckte.
Silvester. Jedes Jahr dasselbe. Seit ihrer Jugend trifft sich die Clique an diesem einen Tag. Früher stand eine fette Party mit reichlich Alkohol im Vordergrund. Doch in den letzten Jahren waren sie allesamt ruhiger geworden. Sie blieben nun zuhause, der Gastgeber wechselte. Silvester war zu einem Wettbewerb geworden, wer im vergangenen Jahr das meiste erreicht hatte oder im neuen die besten Aussichten hatte.
Luise war froh, das Raclette hinter sich zu haben. Marlene und Martin hatten sich an Heilig Abend verlobt und würden im kommenden Sommer heiraten. In DER Location, um die sich alle rissen. Selbstverständlich. Er hatte rechtzeitig reserviert, um Marlene ihren Traum zu erfüllen. Luise hatte sich nur gewundert, dass der Ort der Feierlichkeiten anscheinend wichtiger als der Anlass selbst zu sein schien. Wie sich die beiden an den Händen gehalten haben, natürlich so, dass der fette Brillant perfekt zur Geltung kam, wie sie sich tief in die Augen geschaut haben, um sich dann vor allen anderen zu küssen. Luise hätte am liebsten über den Tisch gekotzt. Stattdessen hatte sie der Bowle zugesprochen. War ja genügend da, nachdem ihr Sabrina leise zugeraunt hatte, dass sie keine trinken dürfe. Im Juli würden sie und Frank stolze Eltern sein. Na super. Wenigstens waren die beiden zurückhaltender als Marlene und Martin. Luise hatte Sabrinas Hand unter dem Tisch gedrückt und ihr leise gratuliert. Eigentlich freute sie sich ja für die beiden. Sollten sie auf ihr Glück verzichten, nur weil Luise Single war? Mit 33? Wohl kaum. Auch bei Marcel lief es gut. Er war befördert worden und hatte sich eine schicke Eigentumswohnung in Frankfurt zugelegt.
Irgendwann hatten sie sich Luise zugewandt. In dem Moment, als sie sich gerade ein zu großes Stück Fleisch in den Mund gestopft hatte und erst kauen musste, bevor sie antworten hatte können. Wie dämlich es sich anfühlte, wenn einem zwölf Menschen beim Kauen zuschauten. Sie war doch keine Kuh, Herrgott! Obwohl, wenn sie eine wäre, wäre sie wohl produktiver. Was sollte sie auch erzählen. Ihr Jahr war beschissen gewesen. Daniel hatte sie verlassen. Aus heiterem Himmel. Er hätte andere Erwartungen an das Leben, hatte er gesagt. Weg war er. Samt der Katzen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er die Viecher mochte. Luise war daraufhin in ein tiefes Loch gefallen und hatte sich nicht mehr konzentrieren können. Aber ihren Job in diesem beengenden Büro hatte sie noch nie gemocht. „Ja, hm. Ich warte darauf, dass der Hartz-IV-Antrag durchgeht, damit ich die Wohnung behalten kann.“ Stirnrunzeln und betretenes Schweigen. Sie war der Silvesterknaller schlechthin. „Sieht aber ganz gut aus. Ich glaube, die bezahlen sogar einen Fernseher, damit man RTL schauen kann“, hatte sie schnell nachgelegt. „Wenn wir dir irgendwie unter die Arme greifen können…“ Martin hatte die Stirn in Falten gelegt und Marlene theatralisch an der Hand gefasst, „wir sind immer für dich da!“ Von wegen. Luise hatte tapfer genickt und ihr Bowle-Glas geleert. Keiner hatte Zeit für sie gehabt, verlogene Drecksbande.
Die frische Luft tat Luise gut. Sie mochte es, wie die Raketen mit einem Zischen in den Himmel sausten, um dann mit einem Prickeln in tausend Farben zu zerspringen. Das war wenigstens ein eindrucksvoller Abgang. Pünktlich um Mitternacht hatte es auch zu schneien angefangen. Luise streckte die Hand aus und sah zu, wie die Flocken auf ihrer Hand schmolzen. So leicht, als hätte es sie nie gegeben. Luise ballte die Hand zur Faust und wischte sich die Tränen ab. Neues Jahr, neues Glück.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen