Willi freut sich. Er reckt jeden seiner Äste von sich und schüttelt die Schneeschicht ab, die sich über Nacht wie Puderzucker über seine Zweige gelegt hat. Jeder soll sehen können, was für eine prächtige Nordmanntanne er ist. Er ist der perfekte Weihnachtsbaum. Es ist der Tag vor Heilig Abend. Heute lernt er die Familie kennen, mit der Willi das Weihnachtsfest verbringen darf, da ist er sich sicher. Schon stapft Bauer Heinrich zu dem Metalltor des kleinen Christbaumverkaufs. Er löst die schwere Kette und schiebt das Tor weit auf. Einige Autos warten schon und fahren auf den Parkplatz. Sie sind bunt wie Christbaumkugeln. Willi überlegt, in welchem Auto er mitfahren wird. Vielleicht in dem blauen? Oder in dem grünen? Er kann es kaum erwarten, mit roten und goldenen Kugeln geschmückt zu werden. Wird er eine Spitze oder einen Stern als Krone aufgesetzt bekommen? Willi fühlt schon die Geschenke, die von unten an seinen Zweigen kitzeln und wie sich seine Lichter in den Augen der Kinder spiegeln. Dieses Jahr wird sein Traum endlich wahr. Er wird ein waschechter Weihnachtsbaum!
"Sie kommen!" Aufgeregt stupst er den Baum neben sich an. Doch dieser lacht nur. "Warum bist du so aufgeregt? Dich wird bestimmt keiner aussuchen. Sieh doch nur, wie du aussiehst!" Wie gemein! Willi atmet tief durch, damit ihm nicht vor lauter Ärger die Nadeln von den Zweiglein fallen. Wer will schon einen Baum ohne Nadeln? "Ich werde der schönste Christbaum der Stadt bei der nettesten Familie, die du dir vorstellen kannst!", entgegnet Willi entschlossen. Von diesem Griesgram wird er sich nicht die Laune verderben lassen. Willi sortiert seine Äste, Zweige und Nadeln und macht sich für die ersten Besucher bereit.
Die Menschen sind in dicke Winterjacken gepackt, die Nasen sind von der Kälte ganz rot. Die Kinder haben rosige Wangen und leuchtende Augen, die unter den molligen Wollmützen hervorspitzen. Eine Familie nach der anderen schreitet an Willi vorbei. Er streckt sich in ihre Richtung, macht sich besonders groß und stellt die Nadeln auf, um noch etwas buschiger zu wirken. Doch keine Familie bleibt bei ihm stehen. Er wird unsicher und betrachtet seine Zweige. Er hat doch alles, was ein Weihnachtsbaum braucht! Willi versteht die Welt nicht mehr. "Sieht denn niemand, wie gerne ich ein Weihnachtsbaum wäre?", denkt er bekümmert.
Da! Ein kleines Mädchen mit einem dunkelgrünen Mantel, einem roten Schal und einer dazu passenden Strickmütze zeigt in seine Richtung. Es packt seinen Vater bei der Hand und zieht ihn in Willis Richtung. Ja, Willi kann sich sehr gut vorstellen, wie die Geschenke für das kleine Mädchen unter seinen Zweigen liegen. Jetzt schiebt das Mädchen den Vater in Willis Richtung, doch der Vater hat nur Augen für die Fichte in der gegenüberliegenden Reihe. Eine Fichte! Willi gibt trotzdem sein Bestes und neigt seine Zweige so, dass sie besonders grün wirken. Der Vater steht nun genau vor Willi. Begeistert sieht er nicht aus, als er Willi von oben bis unten unter die Lupe nimmt. "Ich weiß ja nicht, mein Schatz", fängt er an, "Der ist zu klein. Die Äste biegen sich bestimmt zu stark, wenn wir die Kugeln aufhängen", gibt der Vater zu bedenken und tatscht an Willis Zweigen herum. Zu klein! Willi plustert sich extra auf, um sich noch größer zu machen. Doch es nützt nichts. "Lass uns lieber den buschigen daneben nehmen!", beschließt der Vater und zeigt ausgerechnet auf den gemeinen Kerl von vorhin. Der versetzt Willi einen Schlag und witzelt: "Vielleicht solltest du über eine Karriere als Brennholz nachdenken!" Dann wird er ins Auto geladen und ist verschwunden.
Willi lässt alle Zweige und Nadeln hängen. Dieses Jahr wollte er doch endlich ein Weihnachtsbaum werden. Doch keine Familie bleibt bei ihm stehen. Keiner Familie ist er gut genug. Er ist ein lausiger Weihnachtsbaum. Nein, schlimmer! Wenn das so weitergeht, wird er überhaupt kein Weihnachtsbaum. Heute ist doch seine letzte Chance! Willi verzweifelt. Es ist schon später Nachmittag. Es sind nur noch wenige Bäume da und es kommen immer weniger Besucher.
Aber noch ist Zeit! Willi sieht ein weiteres Auto in den Parkplatz einbiegen. "Ich bin der perfekte Weihnachtsbaum!", spricht er sich selbst Mut zu. Er hält die Luft an, um sich noch einmal besonders groß zu machen und streckt alle Zweige nach vorne. Er verströmt viel von seinem Tannenduft, den die Menschen so lieben. Dieses Mal muss es einfach klappen! Ein fünfjähriger Junge stürmt schnurstracks auf Willi zu. Willi wird es ganz warm ums Herz. Endlich ist es soweit! Der Junge rennt und rennt, die Eltern kommen kaum hinterher. "Halt! Stehen bleiben!", denkt Willi und seine Nadeln beginnen zu zittern. „Bremsen!“ Da ist es auch schon passiert. Der Junge stolpert über einen Eisbrocken und fliegt in hohen Bogen in Willis Richtung. Dabei greift er nach einen von Willis Ästen, um sich festzuhalten. "Aua! Der sticht!", weint er sofort los. "Den will ich nicht! Böser Baum!", schimpft der Junge wütend. Sein Vater hebt den kleinen Mann hoch, die Mutter küsst die gepiekte Hand. "Nein", tröstet sie, "diesen bösen Baum nehmen wir ganz bestimmt nicht!" Böser Baum? Willi hört wohl nicht richtig! Er kann doch nichts dafür, dass der Rotzbengel nicht richtig laufen kann. Sein Zweig hat nun einen hässlichen Knick und im Schnee liegen seine Nadeln. Wer soll ihn denn so nehmen? Jetzt war es sicher endgültig vorbei. Aus ihm würde nie ein Weihnachtsbaum werden. Einsam und verlassen steht Willi da. Die meisten Bäume sind schon ausgesucht worden. Sogar viele der piekenden Fichten. Nur Willi nicht.
Es ist dunkel geworden. Bauer Heinrich hat ein paar Scheinwerfer aufgestellt. Willi wirft einen dünnen Schatten, den er traurig betrachtet. Bauer Heinrich macht sich auf den Weg, um das Tor zu schließen. Nachdenklich bleibt er dabei vor Willi stehen. "Dich werde ich bestimmt nicht mehr los. Du wirst wohl im Kamin enden", seufzt er. Auch das noch. Vor Schreck lässt Willi ein paar Nadeln in den Schnee rieseln. Willi verlässt der letzte Mut. Aus ihm wird nie ein Weihnachtsbaum werden!
Bauer Heinrich holt eine Astschere und setzt sie an einem der unteren Zweige an. Willi zieht sich zusammen und hofft, dass es schnell vorbei ist. Gleich! Gleich wird Bauer Heinrich zuzwicken! Ob er den Bauern noch ein wenig ins Gesicht pieken soll? Willi stellt die Nadeln auf, doch Bauer Heinrich hat dicke Handschuhe an. Er merkt von Willis Angst überhaupt nichts. Bauer Heinrich öffnet die Schere ganz weit, um noch einmal Schwung zu holen und dann…
Plötzlich stört ein Hupen am Tor den Bauer. Er lässt die Astschere fallen und dreht sich um. Ein Mann steigt aus dem Auto aus und ruft laut: "Haben Sie noch einen Baum übrig? In der ganzen Stadt gibt es keinen mehr!" Willi horcht auf, doch zerknirscht denkt er: "Mich will die Familie bestimmt nicht. Auch wenn ich der letzte Baum auf dem Planeten wäre!"
Bauer Heinrich stapft noch einmal zum Tor, um die Familie hereinzulassen. "Einen hab" ich noch", grummelt er wenig überzeugt, "aber den sollten Sie sich vielleicht erst ansehen." Flink wie ein Eichhörnchen klettern zwei Kinder aus dem Auto und rennen auf Willi zu. Nicht schon wieder! Willi gibt sich keine Mühe mehr. Sollen die Kinder ihm noch ein paar Zweige abbrechen. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Doch nichts passiert. Mit leuchtenden Augen stehen die beiden Kinder vor ihm. Das kleine Mädchen streicht bedächtig über Willis Zweige. "Papa, der piekst überhaupt nicht!", freut es sich. Willi traut seinen Ohren kaum. "Da passen richtig große Geschenke drunter!", meint der ältere Bruder. Könnte es doch möglich sein? Willi richtet sich auf. Der Vater lacht: "Und das Christkind muss nicht so viel schmücken!" Willi streckt stolz seine Zweige von sich, seine Nadeln werden ein kleines Bisschen grüner. "Papa, ich glaube, der Baum ist gerade gewachsen", staunt das Mädchen. "Der freut sich bestimmt, dass er unser Weihnachtsbaum werden darf", zwinkert ihr der Vater zu. Willi würde vor Freude am liebsten von selbst ins Auto hüpfen. "Du hast ja keine Ahnung, wie sehr!", denkt Willi bei sich. „Ich bin der perfekte Weihnachtsbaum für die liebste Familie der Stadt!“
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