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Der dritte Stock

Der Kühlschrank war leer. Das Brot war hart. Gab es denn nichts Essbares mehr in dieser Wohnung? Nein. Harald blieb nichts anderes übrig. Er musste einkaufen gehen. Das war angesichts seines Alters gar nicht so leicht. Beim Treppensteigen schmerzten ihn die Knie, die Bushaltestelle war so weit weg wie der Mond. Er vermisste die kleinen Tante-Emma-Läden. Man brauchte sich überhaupt keine Gedanken machen, welche Marke man nahm. Es gab sowieso nur eine. Da war man mit dem Einkauf noch schnell fertig gewesen! Heute musste er durch endlos lange Gänge humpeln, musste sich nach den bezahlbaren Artikeln strecken oder Bücken, sodass seine Bandscheiben Tango tanzten.

Missmutig öffnete er seine Tür. Drei Stockwerke musste er seinen Knien nun zumuten. Der Vermieter hätte ihm einen Treppenlift eingebaut. Aber da war Harald noch rüstig gewesen! Ohne Stock und Rentner-Mercedes. "Eine Unverschämtheit!", hatte er den Vermieter angebrüllt und ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Dass er so schnell Probleme mit den drei Stockwerken haben würde, hätte er nicht gedacht. Frau Gruber und ihre Bälger kamen gerade nach Hause. Trampeln und Geschrei verrieten sie sofort. Ach, seine Nerven! Gab es denn nicht so etwas wie Verwahrstellen für die kleinen Monster? Sie wohnten wie er im dritten Stock, schräg gegenüber. Er erwog kurz, seinen Ausflug zu verschieben, um eine Begegnung zu vermeiden, allerdings würde er dann den Bus verpassen. Also lieber die Grubers ertragen.

„Huhu! Herr Brauning! Wie geht es Ihnen denn heute?“
„Ich bin weder taub, noch senil!“
„Sie wollen noch einkaufen? Ist doch schon viel zu anstrengend für Sie! Soll ich den Jonas schnell schicken?“
„Ich habe nicht auf Kinder verzichtet, um dann Ihre zu ertragen! Nein. Danke!“
„Wie Sie wollen“, murmelte Frau Gruber und verschwand samt Kindern und eigenem Einkauf in der Tür.

Frau Gruber stellte immer so unangenehme Fragen. Ob er nie eine Frau gehabt hätte, ob er sich nicht Kinder gewünscht hätte. Ob er denn wenigstens viel gereist sei und sein Leben genossen habe. Als wäre er schon tot. Eine Last für die Gesellschaft. Unfähig, für sich selbst zu sorgen. Er konnte sehr gut für sich sorgen! Es erforderte nur etwas Planung.
„Herr Brauning“, spähte da die Gruber noch einmal aus ihrer Tür, „soll ich nicht doch Essen auf Rädern für Sie organisieren? Das ist doch kein Zustand mehr!“
„Und Ihnen? Soll ich Ihnen vielleicht mal die Kinder erziehen? Kümmern Sie sich lieber um diese missratenen Gören! Die stören meinen Schlaf!“
Zufrieden registrierte er den Schock auf Frau Grubers Gesicht, bevor sie die Tür zuschlug. Blieben nur noch zwei Stockwerke übrig.

Als er sich zwei Stunden später wieder hinauf quälte, schmerzte sein linker Arm. Nach jeder Stufe musste er seinen Korb absetzen, um Luft zu bekommen. Es war, als würde ihm jemand den Brustkorb zusammenpressen. Völlig erschöpft ließ er sich in seinen Fernsehsessel sinken. Zwei Wochen später stolperten die Sanitäter über den Einkaufskorb. Für Herrn Brauning konnten sie nichts mehr tun.

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