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Reisefieber

Die Schwüle drückte sich unerbittlich auf die Dreiflüssestadt nieder. Die Straßen waren leer gefegt. Die Hitze saugte aus jeder Pore des Körpers den letzten Schweißtropfen heraus. Ventilatoren liefen auf Hochtouren, nur um die schon viel zu warme Luft von einer Zimmerecke in die andere zu blasen. Der Luftzug verschaffte keine Abkühlung mehr. 

Elisabeth starrte durch die geöffneten Fenster des Seminarraums hinaus auf den türkisgrünen Inn. Die karibische Färbung des Flusses, die unerträgliche Hitze und das monotone Geschwafel des Dozenten ließen sie träumen. Nur am Rande nahm sie die Freude des Dozenten über das Wetter wahr. Als sei es seinen wettergöttlichen Fähigkeiten zu verdanken, dass die Hitzewelle gerade dann Deutschland überrollt, wenn er mit seinen Studentinnen über Thomas Manns "Tod in Venedig" fachsimpelte.

Sie hatten sich im Verlauf des Semesters mit verschiedenen Lektüren zum Thema Auszeit zur Normalität beschäftigt. Genau das war es, was sie nicht mehr losließ. Elisabeth wollte sich hinaus in die Welt stürzen, Besonderes erleben, einzigartige Erfahrungen machen. Der Alltag sollte für eine Weile hinter ihr bleiben, keine Verpflichtungen, kein Termine. Sie wollte einfach nur das tun, wonach ihr gerade der Sinn stand. Denn das war es, was ihr immer so schwer fiel. Einfach abschalten. Nicht zuviel nachdenken. Es nicht immer allen recht machen müssen. In den Romanen und Filmen schien das immer so leicht. Der Protagonist hat die Schnauze voll und begibt sich auf eine Abenteuerreise mit erfrischenden Bekanntschaften, philosophiegeschwängerten Unterhaltungen und zum Schluss ist er reich an neuen Erfahrungen, ein völlig neuer Mensch und hat sich sozusagen selbst gefunden.

Es musste ja nicht gleich die ganze Welt sein, die es zu bereisen galt. Sie wollte sich erst einmal mit Deutschland begnügen. Von einem Bahnhof zum anderen, Sight Seeing in den Großstädten. Der Zug erschien ihr das Mittel der Wahl. Sie würde auf viele unterschiedliche Menschen treffen und würde keine Probleme haben, ins Gespräch zu kommen. Stan Nadolnys Netzkarte selbst erleben. Das wär's! Während Aschenbach in Venedig gerade seinen Löffel abgab, weil er sich wider jede Vernunft dorthin begeben hatte, fasste Elisabeth ihren Entschluss. Das Seminar war die letzte Veranstaltung für dieses Semester. Danach würde sie ihren kleinen Koffer packen, der schon in dem kleinen Appartement bereitstand, zum Bahnhof gehen und das erste Ziel nehmen, das ihr ins Auge stach. Sie sah sich schon mit einem Buch in der Hand in einem Café am Kölner Dom sitzen, weniger lesend als das bunte Treiben beobachtend. 

Elisabeth konnte es kaum erwarten, bis der Dozent zum Ende kam. Mit geröteten Wangen verteilte er nach einer gefühlten Ewigkeit die Hausarbeitsthemen und beendete die Sitzung. Als Elisabeth das Gebäude verließ, traf sie die erdrückende Schwüle wie eine Wand. Sie zog ihre Sonnenbrille aus der Tasche und machte sich, so schnell es ihre pflatschenden Flipflops erlaubten, über die Innpromenade auf in die Altstadt. Doch schon bald verlangsamte sich ihr Schritt. Es war einfach zu heiß. Schon gar nicht in der größten Mittagshitze und ohne Schatten spendende Bäume. Die Sonne brannte unerbittlich auf das Pflaster. Elisabeth fühlte sich, als würde sie bei lebendigen Leib verbrennen. Naja, gut, das vielleicht gerade nicht. Aber wenn ihre Flipflops plötzlich zerschmelzen und davon fließen würden, hätte sie das nicht gewundert. Normalerweise war der kurze Fußweg in die Altstadt kein Problem, doch an diesem Tag musste sie stehen bleiben und ihre Wasserflasche hervorholen. Sie führte die kleine PET-Flasche an die Lippen wie ein Verdurstender in der Wüste. Dass sie jedoch keineswegs am Verdursten war, verriet ihr der kleine Ekel, der sie packte, als das schon viel zu warme Wasser ihre Kehle hinunter lief. Sie trank die Flasche in einem Zug aus, nur um festzustellen, dass sich dennoch kein Gefühl der Erfrischung einstellen wollte. Elisabeth überlegte kurz, sich eine Verschnaufspause auf einer der Bänke zu gönnen, verwarf den Gedanken aber rasch wieder. Sie durfte sich selbst keine Zeit zum Zaudern lassen! So ein bisschen Sonne konnten sie doch nicht aufhalten! Elisabeth verstaute die leere Flasche in ihrer Tasche und blickte in den Himmel. Über der Mündung der drei Flüsse türmten sich schwarze Gewitterwolken in die Höhe, die den Horizont bedrohlich ausfüllten. Das Unwetter irgendwann in den nächsten Stunden würde heftig ausfallen, dessen war sie sich sicher. Sie konnte den Blick von den Vorboten der Naturgewalt nicht abwenden und tatsächlich glaubte sie, im Innern der bedrohlichen Gewitterwand schon Blitze erkennen zu können. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Wenn der Sturm losbricht, wollte Elisabeth schon im Zug sitzen und ihr erstes Ziel ansteuern.

Sie trat in die enge Gasse, in der sich ihre kleine Wohnung befand und atmete durch. Hier war es schattig und die Steinmauern der alten Gebäude um sie herum gaben eine angenehme Kühle ab. Nach der Hitze auf der Innpromenade fröstelte Elisabeth im ersten Augenblick sogar ein wenig. Sie stellte die Tasche im Flur ab und ihr Blick fiel in den Spiegel. Unmöglich! So würde sie gewiss keine aufregenden Bekanntschaften machen. Die Haare waren zerzaust und zusammengeklatscht, ihre Kopf rot wie eine Tomate und überhaupt fühlte sie sich plötzlich unangenehm dreckig. Sie roch ihren eigenen Schweiß und ekelte sich vor sich selbst. Nein, so konnte sie ihre Reise nicht antreten. Rasch ging sie ins Bad, warf ihr Top und ihre Hotpants in die Plastiktüte mit Schmutzwäsche und stellte sich unter die eiskalte Dusche. Mit frisch gewaschenen, nach Kokos duftenden Haaren und großzügig verwendetem Deo stand sie vor ihrem Koffer. Sie hatte für diese letzte Semesterwoche in der Erwartung der Hitzewelle nur sehr knappe Kleidung mitgenommen. Was war, wenn es während ihrer Reise abkühlen würde? Für abends hatte sie im Grunde auch nichts dabei. Und sie hatte gewiss nicht vor, sich um acht Uhr abends in einer Jugendherberge in ihrem Bett zu verkriechen. Plötzlich schüttelte sie entschieden den Kopf. Nicht soviel planen!, ermahnte sie sich. Mit einem Ratsch zog sie den Reißverschluss ihres Koffers zu.

Als sie sich kurze Zeit später auf den Weg zum Bahnhof machte, verdunkelten die Gewitterwolken bereits die ganze Stadt. Das Scheppern von Elisabeths Trolley auf dem Kopfsteinpflaster war das einzige Geräusch, das von den Hauswänden wiederhallte. Sie zweifelte, ob es ein gutes Omen für ihren Plan war, dass sie keinen Menschenseele erblickte. Wo sie doch genau das wollte! Menschen kennenlernen.
Im Bahnhof stand sie unschlüssig vor der Tafel mit den An- und Abfahrten. Wo wollte sie denn nun hin? Stirnrunzelnd fuhr sie die Tafel mit dem Finger entlang. Nichts wollte ihr auf einmal so recht zusagen. Sie kannte sich doch nirgends aus. Einen Riecher für Geheimtipps hatte sie auch nicht. Zweifelnd kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Aber wollte sie nicht gerade deshalb ihre Reise wagen? Einfach raus, nichts planen, abwarten, was auf sie zukommen würde. Wie in Trance schlich sie zum Fahrkartenautomaten. Köln. Ja, Köln. Köln war ihr erster Gedanke gewesen, warum nicht gleich dort anfangen? Tatsächlich würde in einer halben Stunde ein ICE abfahren. Das musste doch Schicksal sein.

Als Elisabeth ihre Karte bezahlen wollte, starrte sie ungläubig auf das Display. 131 Euro. Einfach. Auch der Interrail-Pass, mit dem sie dann gleich weiterreisen hätte können, kostete 232 Euro. Sie zog den Finger vom Touchscreen zurück und flüchtete zum Ausgang. Sie ließ sich auf den Stufen vor dem Gebäude niederplumpsen und vergrub den Kopf in ihren Händen. Die Fahrkarte könnte sie im Moment schon bezahlen, aber es würde nicht dabei bleiben. Sie brauchte eine Unterkunft, Verpflegung, Geld für Eintritte, Souvenirs, wahrscheinlich auch Kleidung... Im Gegenzug konnte sie ihren Ferienjob nicht antreten. Sie hatte schon Jahre in derselben Firma gejobbt, wenn sie nun einfach kurzfristig absagen würde, wäre sie den Job sicher auch für die folgenden Semesterferien los. Sie würde also nicht nur eine Menge Geld brauchen, sondern auch ihre Haupteinnahmequelle verlieren. Warum sah das in den Büchern immer so leicht aus? Vielleicht handelte sie doch zu übereilt. So ganz ohne Vorausplanung, ohne einen Kassensturz.

Da saß sie mutterseelenallein auf den Stufen. Was, wenn sie sich in den Großstädten einfach verlaufen würde? In einer einsamen Gasse landen würde? Womöglich noch nachts? Meine Güte, sie hatte wohl zuviel gelesen, schalt sie sich selbst. Schon wieder fing sie an, sich mit ihren Zweifeln alles madig zu reden. Sicherheit gegen Abenteuer abzuwägen. Sie war ein solcher Hasenfuß! So würde das nie etwas werden. Entschlossen stand sie auf, um gegen ihre ganzen Überlegungen zurück zum Fahrkartenautomat zu gehen und nun einfach so ein blödes Ticket zu lösen. In zehn Minuten würde der ICE nach Köln abfahren und sie würde drinsitzen. Jawohl!

Plötzlich durchzuckte ein greller Blitz den nun fast nachtschwarzen Himmel, dem unmittelbar ein ohrenbetäubendes Donnergrollen folgte. Erschrocken blickte Elisabeth nach oben, um im nächsten Moment klatschnass zu werden. Mit einer unerwarteten Wucht entlud sich die aufgeladene Luft und ein sturzbachartiger Wolkenbruch setzte in Sekunden die Straßen unter Wasser. Sofort begann Elisabeth zu frösteln und wollte nur noch weg, in Sicherheit. Während der nächste Blitz den Himmel erhellte und erneut ein Donnergrollen durch die Stadt polterte, packte Elisabeth ihren Koffer und rannte hinunter zum Busbahnhof. Sie stieg in einen wartenden Bus und als der Fahrer sie fragte "Wohin?", murmelte sie nur "Nach Hause..." und zeigte ihre fast leer gestempelte Zehnerkarte vor.

Kommentare

  1. Warum ist da soviel Text? Der erste Abschnitt könnte vollständig fehlen, dass es in der drei Flüsse Stadt schwül und heiß ist, wird unten ja noch einmal beschrieben. Auch die Flip-Flops habe ich mehrfach gelesen.

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    1. Danke für dein Feedback. Eigentlich wollte ich erst Stimmung erzeugen, aber im Grunde hast du recht. Ich könnte den ersten Absatz auch vollkommen weglassen.

      Schade aber, dass du zum Inhalt kein Feedback da gelassen hast.

      Lg, Karin

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