Direkt zum Hauptbereich

Die dunkelsten Abgründe der Seele

Ich werde mich nicht an das Datum erinnern können. Aber sicher an den Wochentag und an die Uhrzeit. Es war ein Donnerstag. Es war die Zeit zwischen 7.50 und 8.10 Uhr. Zwanzig Minuten, die mir die dunkelsten Abgründe meines Seins offenbart haben. Zwanzig Minuten, in denen ich zu roher Gewalt fähig gewesen wäre. Nur meine Schnelligkeit und Entschlossenheit haben Schlimmeres verhindert. Es war der Donnerstag, an dem es bei Lidl Schneeanzüge und andere Winterkombinationen für Kleinkinder gab.

Als ich mein Auto auf dem Parkplatz abstellte, warteten bereits etwa fünf ältere Damen vor dem Eingang mit ihren Wägelchen. Zunächst war ich erleichtert. Ohne Wagen und ohne Kind war ich sicher schneller als diese Schabracken. Ob die wegen des Kinderzeugs da waren, war ohnehin fraglich. Nach und nach kamen jedoch Mamis mit ihren Kindern. Genau in Zwergnases Alter! Es handelte sich eindeutig um Gegner, die ausgeschaltet werden mussten. Ich würde mich zwischen den Wägen des Altersheims durchdrücken müssen und zügig zu den Wühltischen vorpreschen. Jetzt war nicht die Zeit, um auf Äußerlichkeiten oder Anstand zu achten. Jeder ist sich selbst der Nächste!

Die Minuten verstrichen quälend langsam. Die Luft war energiegeladen. Ich war mit meinem Teufelchen auf der Schulter nicht allein. Es wird ein unfairer und harter Kampf werden. In den wenigen Minuten vor der Ladenöffnung beäugte jeder seine Konkurrenten. Es herrschte eine greifbare Anspannung. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Plötzlich sprach mich eine ältere Dame an, was es wohl bei Aldi gibt. Dort sei sie eben vorbeigefahren und es stünden viel mehr Menschen vor der Tür als hier. Ich lächelte sie freundlich an, zog mein Smartphone hervor und lud die Aldi-App. Die Frau sah wie ein kleines Kind aus, das zum allerersten Mal einen Zaubertrick sieht. Leider zerstörte die wirklich nette Dame meine Hoffnungen. Sie war wegen einer der Schneejacken- und Schneehosenkombis da. Ich gab zu, wegen des Anzuges da zu sein. Es war nur kurz, aber auch ihr entglitten die Gesichtszüge, wägte sicher ihre Chancen mir gegenüber ab. "Welche Größe?", fragte sie noch kurz angebunden. "98/104", gab ich zur Antwort und die Situation entspannte sich. Sie brauchte eine andere Größe. Wir waren keine Konkurrenten.

Man hätte vielleicht noch eine Allianz schließen können, aber nun war der Startschuss gefallen. Die Ladentüren öffneten sich und ich legte einen guten Start hin. Zwei von fünf Einkaufswägelchen überholte ich sofort, eine weitere Kundin trickste ich mit einer Abkürzung durch einen Gang aus. Aber verdammt! Eine hatte ich übersehen. Sie war schneller. Wahrscheinlich trainierte sie häufiger als ich. Ich verschwendete keinen Gedanken mehr an sie. Ich wusste ja gar nicht, warum sie hier war. Noch um eine Ecke... und da waren sie! Die Wühltische! Meine Konkurrentin steuerte auf die Winterstiefel zu. Nur ein kurzer Blickkontakt und der Nichtangriffspakt war besiegelt. Ich hatte Glück. Die Schneeanzüge lagen gleich im ersten Korb. Oben auf die richtige Größe. Ich riss gerade zwei Exemplare an mich, als der Seniorenclub schnaufend um die Ecke bog. Darunter auch die nette Dame von draußen, aber sie war mir egal. Ich musste meine Beute sichern, denn ich hatte mir sagen lassen, dass sie einem auch aus der Hand gerissen werden könnte.

Wirklich durchatmen konnte ich erst, als ich meine Beute im Auto hatte. Für diese Schneeanzüge hätte ich einer alten Frau wahrscheinlich auch ein Bein gelegt!

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Willi, der kleine Weihnachtsbaum

Willi freut sich. Er reckt jeden seiner Äste von sich und schüttelt die Schneeschicht ab, die sich über Nacht wie Puderzucker über seine Zweige gelegt hat. Jeder soll sehen können, was für eine prächtige Nordmanntanne er ist. Er ist der perfekte Weihnachtsbaum. Es ist der Tag vor Heilig Abend. Heute lernt er die Familie kennen, mit der Willi das Weihnachtsfest verbringen darf, da ist er sich sicher. Schon stapft Bauer Heinrich zu dem Metalltor des kleinen Christbaumverkaufs. Er löst die schwere Kette und schiebt das Tor weit auf. Einige Autos warten schon und fahren auf den Parkplatz. Sie sind bunt wie Christbaumkugeln. Willi überlegt, in welchem Auto er mitfahren wird. Vielleicht in dem blauen? Oder in dem grünen? Er kann es kaum erwarten, mit roten und goldenen Kugeln geschmückt zu werden. Wird er eine Spitze oder einen Stern als Krone aufgesetzt bekommen? Willi fühlt schon die Geschenke, die von unten an seinen Zweigen kitzeln und wie sich seine Lichter in den Augen der Kinder spieg...

Oma in der Pflicht?

Auf Einer schreit immer erschien kürzlich ein Gastbeitrag darüber, dass man sich als Mutter Unterstützung von der Oma wünschen würde, die aber ihr Leben in vollen Zügen genießt, sich im Fitnessstudio und auf Reisen herumtreibt, während die Working Mum sich wie im Hamsterrad aus Beruf, Haushalt und Kindererziehung fühlt. Früher sei das ganz anders gewesen. Früher hätten Omas gestrickt und mit dem Enkel auf der Parkbank sitzend Vögel gefüttert. Ich glaube, hier ist jemand dem "Früher war alles besser"-Irrglauben aufgesessen. Zumindest trifft das gezeichnete Bild der Märchen-Oma nicht auf meine eigenen zu. Diese waren jünger als Zwergnases Omas jetzt und auch noch selbstständig. Demnach musste meine Mutter den Alltag mit zwei Kindern auch alleine stemmen. Meine Omas waren da, wenn Not am Mann war oder wenn meine Eltern eben einmal ausgehen wollten. Ich glaube aber nicht, dass sich meine Mutter gewünscht hätte, dass ihre Mutter und ihre Schwiegermutter sich in ihren Hausha...

Timing ist alles

Es gibt immer einen Grund, keinen Sport zu machen. Der aktuelle Wetterbericht macht es einem zusammen mit den hoch präzisen Prognosen des Regenradars da ziemlich leicht. Als ich um 10 Uhr aus dem Fenster sehe, scheint die Sonne, am fernen Horizont sind ein paar Wölkchen zu sehen. Ich ahne es bereits, so kündigt sich der meteorologische Weltuntergang an. Ich trinke sicherheitshalber noch einen Cappuccino und verschiebe meinen Spaziergang auf die postapokalyptischen Stunden des Tages. Sicher ist sicher. Um 13 Uhr wirbelt der wüstentrockene Blütenstaub auf dem Balkon in kleinen Mini-Tornados von links nach rechts und wieder zurück, der Wind treibt regenschwere, schwarze Wolken vor sich her. Zufrieden mit meiner Entscheidung nippe ich an meinem Weihnachtstee mit Glühwein-Aroma und beobachte das nicht stattfindende Spektakel. Erwartungen sind des Glückes Tod. Gegen 16 Uhr checke ich erneut das Regenradar. Die Regenwahrscheinlichkeit liegt bei enttäuschenden 40 Prozent, selbst die Wolken si...